Von Dr. Inge Gräßle
Unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung wird seit 2013 an den neuen gemeinsamen europäischen Rechnungslegungsstandards (EPSAS) und ihrer Umsetzung gearbeitet; im Übrigen mit starken Fortschritten in Sachen Transparenz und Staatsmodernisierung. Alle sechs Monate kommen nationale und europäische Fachleute in der EPSAS Expertengruppe zusammen – und auf der Sitzung vom Mai 2023 wurden erstmals EPSAS-Entwürfe diskutiert. Der Zug fährt und er hat keine Bremsen. Die Frage ist daher nicht, ob die EPSAS zum europäischen Standard werden, sondern: Wann und in welcher Ausgestaltung?
Ein erster Schritt dazu ist die Abschaffung der klassischen „Kameralen Rechnungslegung“. Die EU-Kommission hat dazu am 24. April 2023 einen Richtlinienentwurf an den Rat (2023/0136 NLE) vorgelegt. Dort wird zwar nicht explizit EPSAS eingefordert, aber die verpflichtende Einführung der Doppik bis 2030 mit national harmonisierten Standards in allen EU-Mitgliedsstaaten. Ausführliche unterjährige Berichtspflichten der Mitgliedsstaaten über Schuldenstände und Defizite jeder einzelnen staatlichen Ebene, auch der Kommunen, sowie den Sozialversicherungen sind ebenfalls wieder vorgesehen.
Für die meisten Kommunen ist die doppische Rechnungslegung nichts Neues – in vielen der über 10.000 kommunalen Gebietskörperschaften sind Abschreibungen, Rückstellungen und viele andere „nicht-kamerale“ Elemente des Rechnungswesens seit langer Zeit Standard.
Für den Bund und viele Länder gilt dies leider nicht. So ist die Haushaltsrechnung des Bundes beispielsweise immer noch intransparent und lückenhaft und betrachtet mit der Kameralistik nur die jährlichen Zahlungseingänge und -ausgänge. Der große Block künftiger Zahlungsverpflichtungen, etwa aus den Versprechen der Sozialversicherungen oder der Vermögensverbrauch durch Wertverzehr und damit der künftige Investitionsbedarf, bleiben außen vor. In zahlreichen „Schattenhaushalten“ und „Sondervermögen“ werden Schulden und Rücklagen „versteckt“.
Der Deutsche Bundestag spielt diesbezüglich leider keine rühmliche Rolle.
Der Haushaltsausschuss beharrt in seltener Einmütigkeit darauf, dass in Deutschland alles so bleiben solle, wie es ist. Die „bewährten deutschen Rechnungslegungsgrundsätze“ sollten in der EU „ausreichend Beachtung finden“ (Beschluss 2013). Auch der Bundesrechnungshof hat sich 2015 dieser Ablehnung angeschlossen, weil das Nebeneinander zweier Systeme (für Haushalt und Rechnungslegung) Kosten verursache und den eigentlich beabsichtigten Mehrwert der Doppik vernichte. Es ist zurzeit leider nicht zu erwarten, dass sich an dieser zehn Jahre alten Beschlusslage etwas ändert.
Die Argumente gegen die Einführung von Doppik oder gar Europäischer Doppik sind ernst zu nehmen. Die Kommunen wissen aus eigener Erfahrung, dass die Einführung der Doppik nicht nur erhebliche Investitionen erfordert. Nein, sie bindet – und das ist in der heutigen Zeit vielleicht noch schwieriger – knappe Personalressourcen. EPSAS basieren darüber hinaus auf den im privaten Bereich angewendeten International Financial Reporting Standards (IFRS), einem mittlerweile äußerst komplizierten und nur von sehr spezialisierten Experten handhabbaren System.
So weit, so richtig – aber leider nicht zielführend. Denn während wir in Deutschland auf unserer „guten alten Zeit“ beharren, wird auf europäischer Ebene gestaltet und zwar ohne uns. Bund und Länder sind zwar in der Expertengruppe der Europäischen Union vertreten. Die Rückendeckung der Politik haben sie trotz positiver Signale von einigen Ländern wie NRW und Hamburg aber nur sehr eingeschränkt.
Dabei biete die Harmonisierung der öffentlichen Rechnungslegung in Europa große Chancen
– auch für Deutschland, denn gerade bei uns haben wir im kommunalen Bereich einen regional granulierten Flickenteppich von länderspezifischen Vorschriften. Mehr Vergleichbarkeit und Transparenz würden uns gut tun. Es ist darüber hinaus zwar nicht sicher, aber wahrscheinlich, dass zukünftig nur EU-Mittel vergeben werden, deren Verwendung nach EPSAS Standards nachgewiesen werden. Gleiches gilt für das Rating und die Kreditentscheidungen von Banken und anderen Akteuren am Finanzmarkt.
Viele gute Gründe auch für die kommunale Familie, den deutschen „Bremswaggon“ zu verlassen und sich bei der Gestaltung der gemeinsamen europäischen öffentlichen Rechnungslegung in die europäische „Lokomotive“ zu setzen. Dies hat auch ganz praktische Gründe. Denn mit dem in den letzten Jahren erworbenen kommunalen Erfahrungsschatz aus der Transformation von Kameralistik in die Doppik können wir viel dazu beitragen, ein praxistaugliches und unkompliziert handhabbares europäisches System zu schaffen.
Co-Autor: Ralph Brinkhaus