„Ich lag falsch, wir alle lagen falsch“
Veröffentlicht am 26.03.2022 | Von Jacques Schuster
Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Schäuble, 79, war von 2017 bis 2021 Präsident des Bundestages. Zuvor hatte er
mehrere Bundesminister-Ämter inne
Quelle: Marlene Gawrisch/WELT/MARLENE GAWRISCH
Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) gesteht Irrtümer im Umgang mit Russland ein – auch eigene. Um den Frieden zu bewahren, müsse auch Deutschland künftig Härte zeigen. Er hält es für
nötig, dass die Bundesrepublik
schnellstmöglich auf russisches Gas und Öl verzichtet.
Herr Schäuble, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat uns Deutschen vergangene Woche die Leviten gelesen und uns vorgeworfen, für die Bundesregierungen habe über Jahrzehnte
allein der Handelsaustausch mit Russland gezählt. Was ist dran an diesem Vorwurf?
Seit Michail Gorbatschow und dem Fall der Mauer haben wir alle gehofft, dass wir mit Russland eine wirkliche Partnerschaft aufbauen können. In einer solchen Partnerschaft sind enge Handels- und
Wirtschaftsbeziehungen etwas Positives.
Man kann uns vorwerfen, dass wir die Worte Wladimir Putins nicht sorgfältig beachtet haben. Aber wer hätte vor einem halben Jahr vorausgesehen, dass er zu einem großen Krieg in Europa bereit ist?
Ich nicht, und ich bin entsetzt.
Ich habe gerade Tim Bouveries Buch „Mit Hitler reden“ gelesen. Darin geht es um das Appeasement. Die Debatte in den 30er-Jahre besitzt schreckliche Parallelen zur Gegenwart. Aber noch einmal: Wer
hätte vor drei Monaten geahnt, dass es zum großen Krieg kommt? Ich habe es zu meinen Lebzeiten nicht mehr für möglich gehalten, in eine derartige Krise mit Russland zu kommen. Ich kann mich
erinnern, wie ich als Schüler am 17. Juni 1953 vor dem Radio gesessen habe und verfolgte, wie die russischen Panzer durch Berlin fuhren. Dann kam 1956 der Einmarsch in Ungarn und 1962/63 die
Kuba-Krise. Doch seit den 70er-Jahren schwand das Bewusstsein für brenzlige Lagen. Deswegen ist es nicht ganz gerecht, Angela Merkels Rolle in der deutsch-russischen Energiepartnerschaft nun zu
kritisieren. Allerdings hätte nach der Besetzung der Krim Nord Stream 2 nicht
mehr auf den Weg gebracht werden dürfen.
War es ein Betrug oder Selbstbetrug, von Nord Stream 2 als ein privatwirtschaftliches Projekt zu sprechen?
Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich diesen Pipeline-Bau für falsch gehalten habe. Es war auch falsch, dass wir einem Verkauf der deutschen Gasspeicher an Gazprom zugestimmt haben. Es
hätte uns auch alle stutzig machen müssen, dass die Speicher im vergangenen Herbst halbleer waren. Aus heutiger Sicht stank das zum Himmel. Putin hatte genau das beabsichtigt.
Trotzdem kommt einem Selenskyjs Argumentation zu simpel vor: Zieht man solche Menschen wie Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) ab, spielt bei den Deutschen nicht nur der Handel, sondern
doch mindestens genauso die realpolitische Einsicht eine Rolle: Russland ist der große Elefant im Raum. Selbst wenn wir nichts mit ihm zu tun haben wollen, ignorieren oder gar aus Europa
herausdrängen können wir ihn nicht.
Ja, so haben wir alle gedacht. Aber so wie die Ukraine nun leiden muss, müssen wir Selenskyjs Kritik verstehen. Es ist ja auch einiges dran an seinen Worten. Richtig war auch sein Satz: Eure
Anteilnahme nützt mir wenig. Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Waffen. Gerade in dieser Lage müssen wir uns kritisch selbst befragen. Jahrzehntelang haben wir von den
Schutzversprechen der Amerikaner profitiert. Nun dürfen wir keine Sonderrolle spielen und nicht immer die Letzten bei der Unterstützung eines derart bedrängten Volkes zu sein. Es war falsch, über
Jahre die Verbündeten mit dem Zwei-Prozent-Ziel der NATO hingehalten zu haben. All diese Fehler müssen wir schnellstens und dauerhaft
korrigieren.
War es ein Fehler oder war es im Sinne von George F. Kennan politisch weise, die Ukraine 2008 nicht in die Nato aufgenommen zu haben? Kennan, immerhin Vater der Containment-Politik hatte
schon 1997 den Westen davor gewarnt, seine Bündnisse auf dem ehemaligen Gebiet des Sowjetimperiums auszuweiten.
Aus heutiger Sicht war es ein Fehler, der Ukraine beim NATO-Gipfel in Bukarest 2008 keine feste Aufnahmeoption gegeben zu haben. Damals allerdings war ich auch skeptisch. Auch ich dachte, wir
müssen mit Russland kooperieren. Heute weiß ich: Ich lag falsch, wir alle lagen falsch.
Wie empfinden Sie die Haltung des US-Präsidenten Joe Biden in der gegenwärtigen Krise?
Joe Biden ist ein Glücksfall. Wie ich ist er ein Kind des Kalten Krieges, kein Abenteurer, aber einer, die klar roten Linien benennt und keinen Zweifel zulässt, dass der Westen einen Angriff auf
NATO-Gebiet auf keinen Fall akzeptieren wird. Im Kalten Krieg wurde breit über das Buch von General Maxwell Taylor, „The Uncertain Trumpet“, diskutiert. Taylor betonte unter anderem darin, dass
Abschreckung nur funktioniert, wenn es klare Ansichten und Ansagen gibt. Biden hat Taylor offenbar noch gut im Gedächtnis. Zum Glück. Allerdings heißt das für Länder, die vor den roten Linien
liegen, dass es sehr schwer für sie werden könnte. Etwa für Moldawien. Wie gehen wir mit einem möglichen NATO-Beitrittsgesuch Finnlands und Schwedens um? All das sind Fragen, die wir nun
beantworten müssen. Sie erfordern ein gewisses Maß an Härte, die auch wir Deutschen
zeigen müssen.
Was meinen Sie?
Es wird bitter, aber ich denke, wir müssen schnellstmöglich auf russische Gas- und Öllieferungen verzichten. Wir dürfen nicht immer der Bremser im westlichen Bündnis sein. Die atlantische
Solidarität, die wir genießen durften, ist keine einseitige Sache. Putin muss verstehen, dass wir keine „Uncertain Trumpet“ sind. Wir dürfen nicht zurückzucken, wenn es für uns unangenehm wird.
Er muss wissen, für unsere Art zu leben – für unsere Freiheit, sind wir bereit auch substanzielle Opfer bringen.
Sollten wir Finnland und Schweden in die Nato aufnehmen, wenn es die Regierungen wünschen?
Natürlich! Die Nato bedroht niemanden. Sie war immer ein Defensivbündnis.
Wir haben nach 1989 massiv von der „Friedensdividende“ und der Öffnung Osteuropas profitiert. Unsere eigene Verteidigungsbereitschaft haben wir im Vertrauen auf eine glückliche Zukunft massiv
vernachlässigt. Sind die Deutschen mental wirklich bereit für die „Zeitenwende“, die nun beschworen wird? Glauben Sie, dass wir im Ernstfall unsere Freiheit so entschlossen verteidigen würden wie
die Ukrainer?
Ich hoffe, dass wir niemals auf diese Probe gestellt werden. Die Geschichte auch die der Deutschen zeigt: Je größer der Druck, umso größer ist die Fähigkeit, sich zügig anzupassen. Ohne Krisen
bewegt sich leider kaum etwas. Das ist auch der Grund, warum wir in den vergangenen Jahrzehnten in mancherlei Hinsicht schwerfällig und überreguliert geworden sind. In der EU haben wir nicht
einmal hinbekommen, die Sommerzeit zu vereinheitlichen. Ja, vielleicht ging es uns zu gut. Nun aber wird es schneller gehen. Auch Europa muss und wird sich bewegen. Wir werden einen Schub hin zu
einer Vertiefung erleben.
Sie haben eben die 30er-Jahre erwähnt. Ist das, was Emmanuel Macron oder auch Olaf Scholz (SPD) erlebt haben – das München-Trauma der heutigen Politikergeneration?
Leider ja. Zwar sollte man Putin nicht mit Hitler vergleichen, aber das Scheitern der um Frieden bemühten Regierungschefs ist unser München-Moment.
Dann folgt daraus aber auch: mit Putin lässt sich keine Verständigung finden.
Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Das, was Putin gerade treibt, ist das Gegenteil von dem, was in russischem Interesse ist. Man muss sich nur die Fundamentaldaten der russischen Wirtschaft
oder die Demografie in Russland anschauen. Das Streben nach Größe allein wird Russland auf Dauer nicht von seinen gravierenden Problemen bewahren.
Wird es Bundeskanzler Olaf Scholz gelingen, vor allem seine eigene Partei, aber auch die Grünen dauerhaft bei der Unterstützung seiner Sicherheitspolitik zu halten?
Ich wünsche es mir für unser Land. Als ehemaliger Finanzminister weiß ich: Das Zurverfügungstellen von 100 Milliarden Euro löst noch kein einziges Problem der Bundeswehr. Es muss auch sinnvoll
ausgegeben werden. Das wird einige Jahre brauchen. Die Ausstattung der Bundeswehr und die Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels müssen über mehre Legislaturperioden hinaus Bestand haben. Völlig
unabhängig von der Frage, ob dafür eine Änderung des Grundgesetzes nötig ist, sollte man gerade in einer solchen Krise mit der Opposition zusammenarbeiten.
Das erste Mal seit der Kuba-Krise müssen wir uns wieder mit den Risiken eines Atomkriegs beschäftigen. Oder ist das zu hysterisch?
Nein, das ist leider nicht hysterisch. Das ist die traurige Realität. Allerdings ist auch klar: Ein Atomkrieg war nie führbar. Das haben viele bis heute nicht verstanden. Abschreckung heißt: Sie
so glaubwürdig zu gestalten, dass dem Gegner der Einsatz von Atomwaffen nicht in den Sinn kommt, will er nicht selbst vernichtet werden. Deswegen ist Abschreckungspolitik Friedenspolitik.
War US-Präsident Donald Trump eine Ausnahme oder ist Biden eine Ausnahme?
Jedenfalls haben wir jetzt erst einmal zweieinhalb Jahre Zeit, um das anzustoßen, was schon John F. Kennedy gefordert hatte: die Stärkung des europäischen Pfeilers in der NATO und eine gerechte
Lastenverteilung. Außerdem müssen die Europäer nach mehr Gemeinsamkeiten mit den USA im Umgang mit China suchen. Ich habe es für sehr bedenklich gehalten, dass die Europäer noch auf dem letzten
Drücker kurz vor Bidens Amtsantritt das Investitionsabkommen mit China in Kraft gesetzt haben. Man hätte auf den neuen Präsidenten und dessen Position warten müssen.
Darüber hinaus hoffe ich, dass die russische Gefahr auch in der amerikanischen Innenpolitik Veränderungen bringen wird. Das Land war schon immer von großen Gegensätzen geprägt. Von daher ist es
falsch, diese Spaltung als ein Trump-Phänomen zu charakterisieren. Aber ich bin guter Hoffnung, dass durch die gegenwärtige Krise auch die Republikaner nach einem gewissen außenpolitischen
Konsens suchen werden.
Wie immer der Krieg in der Ukraine ausgehen wird, ist wohl bereits jetzt abzusehen, dass wir einer neuen Weltordnung entgegengehen. Wie wird sie Ihrer Meinung nach
aussehen?
Idealiter wird es eine Weltordnung sein, in der die Europäer ein entscheidender Teil sind. Das wird aber nur gemeinsam gehen. Die EU wird sich institutionell wesentlich verändern müssen. Sie wird
sich auch schnell erweitern müssen. Der westliche Balkan, Serbien, muss beitreten dürfen. Gleichzeitig wird die Erweiterung nur gelingen, wenn wir verschiedene Stufen der Integration schaffen.
Die Blaupause dafür steht schon im Schäuble/Lamers-Papier von 1994.
Und global gesehen?
Ich finde den Gedanken sehr reizvoll, ein Bündnis der freiheitlichen Demokratien anzustreben. Darin müssen alle Mitglieder ein gewisses demokratisches Mindestmaß erfüllen. Sie sollten immer dann
gemeinsam auftreten, wenn es die Freiheit zu verteidigen gilt. Das würde die Diktatoren das Fürchten lehren. Putin hat keine Angst vor der Ukraine, genauso wenig wie China Angst vor Hongkong hat.
Beide haben Angst vor der Freiheit. Sie wissen, dass Freiheit und Demokratie ansteckend sind. Leider hat sich der Westen oft selbst nicht an seine Ideale gehalten, aber wenn er es tut, dann sind
diese Ideale ungeheuer attraktiv. Deswegen sind Autokraten so nervös, wenn sie den Freiheitswillen in der Nachbarschaft wittern.